Renegade Nell – Oli Julian & Nick Foster

Renegade NellMusik komponiert von
Oli Julian & Nick Foster
Score produziert von
David Rodger, Nick Foster
& Oli Julian
Orchestriert von
Anthony Weeden & Sam Jones
Ergänzende Musik von
Ethan Jeffrey & Nick Cave

„Renegade Nell“ schien für viele (mich eingeschlossen) aus dem Nichts zu kommen: Erdacht von Sally Wainwright, folgt die Disney+-Serie Nell „Nelly“ Jackson, einer frisch verwitweten Soldatin, welche sich im England des Jahres 1705 mit allerhand Ärgernissen herumschlagen muss. Als ihr der Mord am örtlichen Friedensrichter angehängt wird, wird sie gegen ihren Willen zur Straßenräuberin und hat dabei auch noch ihre Schwestern, den ehemaligen Diener der rachsüchtigen Kinder des Friedensrichters und den Möchtegern-Gentleman-Schurken Charles Devereux am Hals. Hinzu kommt auch noch der sinistre Earl of Poynton, welcher dämonische Magie zu wirken vermag. Doch Nell hat einen Trumpf im Ärmel: Den Feen-Mann Billy Blind, welcher ihr in Momenten der Not übermenschliche Kräfte verleiht. Aufgrund ihrer Taten wird Nell unfreiwillig zu einem Symbol der Rebellion für das gemeine Volk. All diese schrägen Zutaten harmonieren innerhalb der Serie erstaunlich gut miteinander, obgleich der Handlung nach einer Weile leider ein wenig die Luft ausgeht. Doch die Schauspieler*innen, von denen sich besonders „Derry Girls“-Liebling Louisa Harland, Frank Dillane und Nick Mohammed hervortun, leisten wundervolle Arbeit und unterhalten nahezu durch die Bank weg, wobei auch Joely Richardson, Enyi Okoronkwo und Adrian Lester mehr als soliden Support leisten. Die Schauwerte sind hochwertig, die Action hat Wucht und auch die Comedy sitzt, einige Charaktere bleiben jedoch hinter ihrem Potenzial zurück.

Als Komponisten wurden Oli Julian und Nick Foster verpflichtet, beide bereits seit Jahren im TV-Bereich unterwegs: Julian komponierte unter anderem für die Serien „Sex Education“, „Breeders“ und „Us“, während Foster solche Projekte wie „Shark After Dark“, „Timewasters“ und „The Cube“ mit Musik versorgte. Beide arbeiteten außerdem schon gemeinsam an der Serie „In My Skin“. Wie genau die Partnerschaft im Fall von „Renegade Nell“ aussah und wer exakt welche Ideen beisteuerte, ist schwer zu sagen, doch was zählt, ist das Ergebnis – und dieses ist in vielerlei Hinsicht tatsächlich ziemlich außergewöhnlich. Den Stil des Scores kann man am treffendsten wohl folgendermaßen beschreiben: Deftige Western-Einflüsse durch den „Ye Olde England“-Fleischwolf gedreht, kräftig gewürzt mit dem wohl wildesten Chor-Einsatz, den ich seit langem gehört habe.

Renegade Nell 1

Was Western-artige Folk-Elemente in Scores angeht, bin ich tatsächlich ein leichtes Ziel: Baut Banjos und Fideln ein, und schon habt ihr mich! Und glücklicherweise werden die meisten Tracks von ebendiesen Instrumenten dominiert! Dies hat zur Folge, dass eine Serie, die eigentlich in England spielt, wie ein rauer Western klingt, aber irgendwie funktioniert diese stilistische Entscheidung hier ganz famos! Und dennoch schwingt an vielen Stellen stets noch eine gewisse Authentizität mit, welche zu Handlungs-Ort und -Zeit passt. Was dem Score allerdings fehlt, sind wirklich eingängige Leitmotive. Es gibt sich wiederholende Elemente, aber größtenteils keine durchgängigen Melodien für bestimmte Charaktere. Hauptfigur Nell hat ein Thema, welches in „Nell’s Theme“ als flottes, hoffnungsvolles und tänzerisches Stück für Fideln, Banjos und einige heroische Blechbläser gleich zu Anfang des Albums den Ton angibt und auch im Abspann fast jeder Folge erklingt, doch die Melodie selbst wird erst wieder in „The Truth Matters“ aufgegriffen. Ansonsten verlassen sich die Komponisten eher auf markante orchestrale, stimmliche oder rhythmische Elemente, um in bestimmten Szenen einen spezifischen Charakter oder ein Konzept hervorzuheben.

Tracks wie „Reunion“, „Stand And Deliver”, “Tottenham 1705”, “Where’s Joseph” und „The Queen’s Shilling” stellen die munter-flotten Western-Folk-Klänge in den Vordergrund. Hier kommen Banjos, Gitarren, Fideln und teilweise sogar Akkordeon zum Einsatz und machen sehr viel Spaß. Einen besonderen Höhepunkt stellt hierbei „The Reluctant Highwaywoman“ dar, mit einem draufgängerisch-tanzartigen Stück, welches neben den schon erwähnten Instrumenten auch Händeklatschen und teilweise jubelnde Stimmen aufbietet. An einigen Stellen meint man sogar, gewisse Jack Sparrow-Einflüsse aus den „Pirates of the Caribbean“-Scores herauszuhören. „The Trotters“ klingt da bedächtiger, aber auch hoffnungsvoll, wohingegen Sängerin Kate Stables in „He Waits, By The Riverside“ einen sehr traurigen Song vorträgt.

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Im krassen Gegensatz dazu steht das Element des Scores, welches wohl am meisten heraussticht: Wann immer Nell ihre Superkräfte bekommt und ordentlich austeilt, erklingen einerseits verfremdete elektronische Effekte, aber vor allem modernes Schlagzeug, E-Gitarre, Händeklatschen und ein wilder Frauenchor, welcher zum Teil Worte singt, aber auch zügellose Rufe ausstößt. Die zweite Hälfte von „On The Bridge“, „Murder“, „Two Annes“ und „Fighting Poynton“ variieren diese Klänge, wobei kaum ein Statement wie das andere klingt. In diesen Szenen und Tracks geht es musikalisch am ehesten vollkommen anachronistisch zu, aber das passt sehr gut zu der seltsamen Magie, welche Nell dabei hilft, sich so wirkungsvoll zu verteidigen.

Apropos Magie: Den finsteren Machenschaften des Earl of Poynton und seiner Schülerin Sofia sind die düstersten Tracks des Albums gewidmet. In „Sofia’s Confession“, „Sofia Takes The Reins“, „Sofia Maleficent“, „You Could Do It“ und „Poynton’s Secret“ geht es mit teilweise kratzigen oder schrillen Streichern, elektronischem Dröhnen, Percussion, gruseligem Geflüster und sogar Chor, welcher an „Ghost in the Shell“ erinnert, ordentlich zur Sache. „Start Running“ vermischt diese Klänge gar mit Nells Action-Elementen. An einigen Stellen kommen auch entschlossenere Männer-Chants zum Einsatz.

Renegade Nell 2

Andere Titel wie „The Fantasia Of Lady Eularia”, “Meeting Lord Blanchford”, “A Carriage Ride In Potter’s Bar”, “Smelly Not Jelly” und “The Passion Of Polly Honeycombe” bringen teilweise Eleganz, aber auch ausschweifende und eher klassisch anmutende Comedy in die Musik, welche stets sehr gut platziert ist und nie aufdringlich wirkt. „Billy Blind“ und „How To Help Thomas“ hingegen schlagen sehr märchenhafte Töne an, mit fremdartigem Gesang und Glockenspiel. Hier hat man wirklich das Gefühl, durch ein Schlüsselloch in eine andere Welt zu spähen. In „The Ballad Of Renegade Nell“ schließlich trägt Nick Cave einen halbwegs authentisch klingenden Song vor, welcher aufgrund von Orchestrierung und Frauenchor aber natürlich bewusst noch ein wenig über die Stränge schlägt. So oder so passt die Ballade sehr gut in das von der Serie geschaffene Universum.

Fazit:
Ob ihr den Score zu „Renegade Nell“ nun mögt oder nicht, hängt zu einem großen Teil von eurer Toleranz für Banjo- und Fidel-lastige Folk-Klänge sowie anachronistische Elektro- und Chor-Elemente ab. Wenn ihr diesen etwas abgewinnen könnt, so gibt es hier viel zu entdecken: Die Arrangements sind sehr gelungen, die exotischeren, deftigen Action-Passagen besitzen eine gewaltige Durchschlagskraft und dazwischen bekommt man allerhand komödiantische oder sogar elegante Momente geboten. Dass hier nicht wirklich leitmotivisch vorgegangen wird und viele Tracks eher ziemlich für sich allein stehen: Geschenkt. Letztendlich finden all diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Zutaten doch irgendwie zu einem halbwegs kohärenten Ganzen zusammen und verbinden sich dank dem offensichtlichen Talent von Oli Julian und Nick Foster zu einem sehr interessanten und frischen Hörerlebnis. Sehr positiv gemeinte 3,5/5 Punkte gibt es dafür von mir, in der Hoffnung, dass ich euch damit auf dieses Album und vielleicht sogar auf die Serie selbst neugierig machen konnte.

Trackliste mit Längenangabe und Anspieltipps:

  1. Nell’s Theme – 2:27
  2. Fight! – 2:29
  3. Thomas At Broadwater – 1:56
  4. Billy Blind – 1:50
  5. Did You Kill The Wrong Person? – 1:18
  6. Poynton’s Secret – 3:32
  7. He Waits, By The Riverside (Gesungen von Kate Stables) – 2:13
  8. On The Bridge – 2:40
  9. Reunion – 2:14
  10. The Funeral – 2:08
  11. The Fantasia Of Lady Eularia – 3:04
  12. Stand And Deliver – 2:25
  13. Tottenham 1705 – 1:40
  14. Exploding Apples – 2:28
  15. In-Depth Conversations – 1:41
  16. Meeting Lord Blanchford – 1:11
  17. People Like You – 2:59
  18. Murder – 3:22
  19. A Carriage Ride In Potter’s Bar – 2:18
  20. Cuckoo’s Bread – 2:12
  21. Sofia’s Confession – 3:46
  22. Sofia Takes The Reins – 1:30
  23. Out Of Sight, Out Of Mind – 1:28
  24. Sofia Maleficent – 2:10
  25. Smelly Not Jelly – 1:35
  26. Rasselas & Sofia – 2:39
  27. Where’s Joseph? – 0:42
  28. The Queen’s Shilling – 0:38
  29. In The Gaol – 3:17
  30. Start Running – 4:46
  31. The Passion Of Polly Honeycombe – 3:11
  32. The Reluctant Highwaywoman – 1:17
  33. The Truth Matters – 1:49
  34. Eularia Bids Farewell – 3:00
  35. The Trotters – 1:02
  36. Broadwater It Is – 1:22
  37. You Could Do It – 2:29
  38. Two Annes – 2:34
  39. The Battle Begins – 1:31
  40. Fighting Poynton – 2:25
  41. How To Help Thomas – 2:13
  42. The Final Battle – 2:33
  43. The Ballad Of Renegade Nell (Oli Julian, Nick Foster & Nick Cave) – 2:31


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